§ 101 Strafprozessordnung, eine Enstehungsgeschichte.

Am 26. Juli 2021 wurde bekannt, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz zum Verdacht der falschen Beweisaussage vor dem „Ibiza-Untersuchungsausschuss“ durch einen Richter und nicht durch die WKStA vernommen wird.
Grund hierfür: § 101 Abs 2 Strafprozessordnung. Ein Text zu deren Entstehung und die Hintergründe.

Dies erfolgte per Weisung aus dem Justizministerium, die Voraussetzungen für Anwendung des angesprochenen § 101 lägen demnach vor:
1. Eine besondere Bedeutung des Beschuldigten und
2. eine besondere Bedeutung der Straftat und daher
3. bestehendes öffentliches Interesse an der gerichtlichen Beweisaufnahme.

Der § 101 in geltender Fassung trat am 1.1.2008 in Kraft, beschlossen wurde er 2004 von den Regierungsparteien ÖVP und FPÖ, nach Regierungsvorlage. In dieser stellte sich § 101 aber noch anders dar (Bild 1), als der schlussendlich beschlossene (Bild 2).

 

Der neue § 101 wurde erst im Justizausschuss Teil der Gesetzesinitiative (des Strafprozessreformgesetzes), eingebracht wurde der „umfassende Abänderungsantrag“ von Maria Fekter (ÖVP) und Eduard Mainoni (FPÖ), die Begründungen finden sich in der Berichterstattung des Ausschusses (Seiten 3-22).

Demnach wollten Fekter/Mainoni bzw. der Ausschuss mit dem Abänderungsantrag vor allem auf die „Anscheinsproblematik“ eingehen, wonach „eigenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen deren organisationsrechtlichen Stellung nicht dasselbe Maß an Vertrauen entgegengebracht werde wie dem unabhängigen Gericht.“

 

Dem Abänderungsantrag bzw. dem Beschluss an sich gingen monatelange Beratungen voraus, hierfür wurde eigens ein Unterausschuss zum Justizausschuss eingerichtet. Dieser tagte siebenmal in elf Monaten, sechs der sieben Sitzungen waren öffentlich.

Darum sind im parlamentarischen Verfahren weiter „auszugsweise Darstellungen“ dieser Unterausschuss-Sitzungen zu finden. Besprochen wurde § 101 speziell in Sitzungen fünf, sechs und sieben, nachdem der entsprechende Abänderungsantrag vorlag.

Dort fand ein „Experten-Hearing“ statt, unter anderem war Dr. Thomas Mühlbacher (Erster Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Leoben) zu Gast. Dieser befürchtete eine „Zwei-Klassen-Justiz“ und Vermischung des – mit derselben Reform abgeschafften – Untersuchungsrichtermodells und des Staatsanwaltsmodells: „Ich halte den Ausdruck ‚Verschlimmbesserung‘ persönlich für ein Unwort, glaube aber, in diesem Fall trifft er dem Sinn nach zu“ (Seiten 9-11).

 

O.Univ.-Prof. Dr. Frank Höpfel (Universität Wien; Institut für Strafrecht und Kriminologie) sah durch die Änderung des § 101 einen drohenden „Beigeschmack des Misstrauens gegenüber dem Staatsanwalt.“ (Seite 36)

Hinter dieser Einschätzung steht Dr. Höpfel auch heute noch, wie er als Antwort auf diesen Text anmerkt.

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O.Univ.-Prof. Dr. Reinhard Moos (Abteilung für Strafprozessrecht, Kriminologie und Strafvollzug, Johannes Kepler Universität Linz) beurteilte die Änderung positiv, denn „wenn dem Staatsanwalt daran liegt, dass sein Ansehen und das Ansehen des Rechtsstaats gewahrt bleibt – ich darf doch annehmen, dass das jeder tut und dass Staatsanwälte nicht mauscheln wollen –, dann wird er den Antrag stellen, die entscheidenden Vernehmungen durch den Richter durchführen zu lassen.“ (Seiten 60-64)

 

Dr. Wolfgang Swoboda (Erster Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Eisenstadt) vermutete, dass an der gewünschten Wirkung des § 101 vorbeigeschrammt wird. Unterschiedliche Ermittlungsschienen bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen würden Misstrauen schaffen (Seiten 23-24).

 

In eine ähnliche Kerbe schlug Prof. Dr. Otto F. Müller (Generalprokurator a.D.). Er sah keinen Anlass für das den Staatsanwälten durch den § 101 scheinbar entgegengebrachte Misstrauen, eher ganz im Gegenteil (Seiten 27-28).

 

Und, zu guter Letzt: Im Unterausschuss ging auch ein gewisser Mag. Christian Pilnacek – damals Oberstaatsanwalt in der Sektion II des Justizministeriums, er war einer der federführenden Akteure hinter der Strafprozessreform – auf § 101 ein: „Dabei soll es aber natürlich möglich sein, dass die Staatsanwaltschaft einen solchen Antrag nicht stellt, wenn klar ist, dass man unmittelbar Anklage zu erheben oder unmittelbar Strafantrag einzubringen hat“ (Seite 7).

 

Wir sehen also – zum einen aufgrund der Materialien, zum anderen wegen der Aussagen im Unterausschuss -, dass der § 101 2004 eigentlich für gegenteilige Umstände geschaffen wurde als im aktuellen Fall angewendet. Damals sollte es scheinbar um die Möglichkeit gehen, Sorgen über eine bei clamorosen Fällen womöglich „zu vorsichtige“ Staatsanwaltschaft – eben in der Weisungskette – auszuräumen. Denn die weisungsgebundene Staatsanwaltschaft könnte ja zum Beispiel „Vertuschungsversuche“ unternehmen (müssen), dann wäre die Möglichkeit der Beantragung einer Richterbefragung sogar eine Art „Recht“ der Staatsanwaltschaft.

Die Entscheidung, eine Richterbefragung zu beantragen, kann man sicherlich so treffen, muss man wohl auch so treffen. Vielleicht macht es das Verfahren sogar „sauberer“ für die Öffentlichkeit. Die Frage ist eher, ob nicht der Anschein erweckt wird, die WKStA würde nur politisch gesteuerte Arbeit machen können. Weil eben erst eine Weisung erfolgen musste.

 

Dieser Text erschien zuerst – in leicht gekürzter Form – am 27. Juli als Twitter-Thread.

 

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