Dieser Text erschien zuerst am 27.9.2024 im STANDARD und ist weiterhin hier abrufbar.
In Sieghartskirchen sind im Gemeindeamt gelagerte Wahlkarten „abgesoffen“. Gemeinde und Land betonen, dass die Stimmen wohl gerettet werden konnten – fix ist das aber nicht
129 Paragrafen hat die Nationalratswahlordnung, ausgedruckt ist sie 66 Seiten lang. Doch was zu passieren hat, wenn ein Hochwasser das Land im Griff hat, ist nicht genau geregelt. Einzelne Gemeinden können die Wahlhandlung zwar auf den Montag nach der Wahl verlängern; darüber, wie die Vorgangsweise bei einer größeren Krise wäre, schweigt das Wahlrecht aber. Dass das für Probleme sorgen kann, zeigt der Fall der niederösterreichischen Gemeinde Sieghartskirchen. Diese wurde von der Hochwasserkatastrophe in der vergangenen Woche schwer getroffen – und mit ihr auch die schon ausgefüllten Stimmzettel für die Nationalratswahl, die im Rathaus gelagert waren.
Verwendete Wahlkarten werden nicht ausgetauscht
Darüber wurden die Mitglieder der Bundeswahlbehörde am Mittwoch informiert. Das bestätigen mehrere Teilnehmer der Sitzung dem STANDARD. Demnach waren zum Zeitpunkt der Unwetter 44 bereits ausgefüllte und unterschriebene Wahlkarten im Gemeindeamt von Sieghartskirchen eingelagert – und seien dann „abgesoffen“. Auf Anfrage des STANDARD bestätigt ein Sprecher des Innenministeriums: Dort „ist die Tatsache bekannt, dass in Sieghartskirchen 44 Wahlkarten durch Nässeeinwirkung beschädigt wurden“. Und weiter: „Bei Wahlkarten, die bereits zur Briefwahl verwendet wurden – also die eidesstattliche Erklärung unterschrieben und/oder die Wahlkarte zugeklebt wurde –, ist ein Austausch der Wahlkarte nicht möglich.“
Aber der Sprecher des Innenministeriums betont auch, dass allein die zuständige Wahlbehörde in der Gemeinde entscheide, ob eine Wahlkarte in die Ergebnisermittlung miteinbezogen werden kann. Laut Gesetz ist eine Wahlkarte dann nichtig, wenn sie „derart beschädigt ist, dass ein vorangegangenes missbräuchliches Entnehmen oder Zurücklegen des inliegenden Wahlkuverts nicht ausgeschlossen werden kann“. Wie dem STANDARD aus der Sitzung der obersten Wahlbehörde berichtet wurde, war der Tenor dort: Die bereits abgegebenen Stimmen in Sieghartskirchen müssten eigentlich ungültig sein, es handle sich schlicht und einfach um „höhere Gewalt“.
„Die Kuverts waren zwar nass …“
Doch Gemeinde und Land widersprechen dem. Ein Sprecher der niederösterreichischen Landtagsdirektion schreibt dem STANDARD: „Die Kuverts waren zwar nass, wurden aber nicht vernichtet. Die betroffenen Briefwahlkarten sind daher von der Wahlbehörde in die Beurteilung aufzunehmen und entsprechend auszuwerten.“ Und Andreas Knirsch, Amtsleiter im Sieghartskirchener Rathaus, berichtet auf Anfrage von einer Rettungsaktion: „Wahlkarten, welche bereits zur Stimmabgabe verwendet und auch am Gemeindeamt abgegeben wurden, sind am Tag nach der Überflutung des Gemeindeamtes aufgelegt, getrocknet und gesichtet worden.“
Am Freitag vor der Wahl wurden diese auf die einzelnen Wahlsprengel aufgeteilt; dort werde dann entschieden, ob die Wahlkarten unversehrt genug sind, um sie werten zu können. Und für die beschädigten Wahlkarten, die zur Abholung bereitlagen – der Postpartner ist im Gemeindeamt untergebracht –, hätten Duplikate ausgestellt werden können. „Danach kann der Wähler von seinem Stimmrecht Gebrauch machen“, schreibt Knirsch weiter. Diese Vorgangsweise sei mit den oberen Wahlbehörden abgesprochen worden: „Um trotz all der widrigen Umstände die Wahl in gewohnter Weise abzuwickeln.“
Auch 44 Stimmen können einen Unterschied machen
Bleibt noch eine Frage: Könnten wegen Unwetterkatastrophen zerstörte Wahlkarten womöglich eine erfolgreiche Wahlanfechtung ermöglichen? Das könne vom Innenministerium nicht beurteilt werden, heißt es von dessen Sprecher. Laut Verfassung ist für eine Wahlanfechtung relevant, dass die Wahlgesetze gebrochen wurden; für den Fall mehrerer wegen „höherer Gewalt“ zerstörter Wahlkarten gibt es aber eben kein Gesetz. Doch abgesehen von dieser Frage müsste für eine erfolgreiche Wahlanfechtung Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis Einfluss gehabt haben können: Das sei theoretisch schon bei „nur“ 44 verlorenen Wahlkarten denkbar, sagt Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik vom Institut für Staatswissenschaft an der Universität Wien dem STANDARD.
Zwar hält er fest: „Die Wahrscheinlichkeit, dass 44 Stimmen etwas ändern, ist sehr gering.“ Allerdings könne es natürlich dazu kommen, „dass ein Mandat nur durch wenige Stimmen abgesichert ist – oder wenige Stimmen darauf fehlen“. Ennser-Jedenastik erinnert an die Bezirksvertretungswahl 2015 in Wien-Leopoldstadt: Die wurde vom Verfassungsgerichtshof wegen 23 Stimmzetteln zu viel aufgehoben: „Was zum Beispiel, wenn die Bierpartei um 40 Stimmen den Einzug verpasst? Dann könnte sie argumentieren, dass 44 verlorene Stimmen theoretisch einen Unterschied gemacht haben könnten – und das allein würde dem Verfassungsgerichtshof wohl genügen.“ Und es gebe noch viele weitere denkbare Szenarien, etwa im Bereich der Vergabe von Vorzugsstimmen.
Klar ist aber auch: Eine der Parteien auf dem Stimmzettel müsste sich aktiv dazu durchringen, eine Anfechtung einzubringen. Und zuerst entscheiden sowieso die Wahlbehörden in Sieghartskirchen.