Dieser Text erschien zuerst am 19.1.2024 in den Vorarlberger Nachrichten und ist weiterhin hier abrufbar.
Anlassfall Christoph Thoma: Warum muss die Staatsanwaltschaft zuerst den Landtag um Erlaubnis fragen, wenn sie gegen Landtagsabgeordnete ermitteln möchte?
Wien, Bregenz Wir schreiben das Jahr 1895. Der Landtagsabgeordnete Jodok Anton Fritz steht unter Druck. Er habe in der „Kronenwirtschaft“ im Kleinwalsertal „ehrenrührige Aussagen“ getätigt: Er verbreitete Gerüchte, wonach Daniel Müller, damals wie Abgeordneter und Bürgermeister Fritz selbst Gemeindevertreter in Mittelberg, Unterschriften fälschte. Müller fühlte sich geschädigt und erhob Anklage. Doch das kaiserlich-königliche Bezirksgericht in Bezau konnte zunächst nicht über Schuld oder Unschuld entscheiden: Der Landtag lieferte Jodok Anton Fritz nach langer Debatte im Plenum über Sinn und Zweck der Immunität nicht an die Justiz aus – auch, um das Parlament selbst zu schützen.
Zuerst um Erlaubnis fragen
„Die Mitglieder des Landtags dürfen wegen einer strafbaren Handlung nur mit Zustimmung des Landtags verhaftet werden.“ So steht es in Artikel 29 der Vorarlberger Landesverfassung. Dort steht auch, dass gegen Landtagsabgeordnete nicht ermittelt werden darf, wenn die vermutete strafbare Handlung mit der politischen Tätigkeit des Parlamentariers zusammenhängen könnte. Möchte die Staatsanwaltschaft das dennoch tun, muss sie den Landtag zunächst um Erlaubnis fragen.
Das tat sie zuletzt am Mittwoch – sie beantragte die Auslieferung des ÖVP-Abgeordneten Christoph Thoma an die Justiz. Der Direktor des Vorarlberger Wirtschaftsbunds soll laut einer anonymen Anzeige in einer privaten Angelegenheit Druck auf eine Lehrerin ausgeübt und interveniert haben, für eine bessere Schulnote – die VN berichteten. „Ein Umstand, den ich entschieden zurückweise“, hielt Thoma fest. Er werde sich selbst für eine rasche Aufhebung seiner Immunität einsetzen.
Kein Privileg des einzelnen Abgeordneten
Aber warum ist Christoph Thoma – wie die anderen 35 Landtagsabgeordneten – zunächst immun vor strafrechtlicher Verfolgung? Borghild Goldgruber-Reiner, Juristin und Vorarlberger Landtagsdirektorin, informiert: „Das kommt daher, dass es Zeiten in Österreich gab, in denen mit polizeistaatlichen Mitteln versucht wurde, Abgeordnete zu verhaften, sie einfach wegzusperren und sie so von der Ausübung des Mandats abzuhalten.“ Und Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal von der Universität Wien ergänzt: “Das ist eine Regel, über die schon lange diskutiert wird, aber immer schlussendlich als notwendig erachtet wurde”, sagt sie den VN. Dass es sich um ein Privileg des ganzen Parlaments handelt, werde auch darin deutlich, dass die Immunität oft als eine Bürde für die einzelnen Abgeordneten empfunden wird: “Durch die Auslieferungen wird eine Strafverfolgung öffentliches Thema – und etwas bleibt dann immer hängen.”
Die Immunität der Parlamentarier umfasst zwei Aspekte: Zum einen dürfen Nationalratsabgeordnete, Mitglieder des Bundesrats und Landtagsabgeordnete für Äußerungen, die sie im Rahmen ihres Mandats tätigen, nur vom Landtag selbst zur Verantwortung gezogen werden. Das passiert etwa mit einem Ordnungsruf durch den Präsidenten, gilt aber nur für Reden im Plenum, nicht für eine Pressekonferenz nach der Sitzung.
Der zweite Teil ist der bereits beschriebene Schutz vor Ermittlungen wegen außerberuflicher Handlungen. Diese Immunität kann aber vom jeweiligen Parlament aufgehoben werden. Wenn ein Abgeordneter auf frischer Tat ertappt wird, muss der Landtag informiert werden, er kann die Freilassung veranlassen. „Ein Abgeordneter, der mit einem blutigen Messer neben einer Leiche entdeckt wird, kann aber natürlich zuerst einfach verhaftet werden“, sagt Borghild Goldgruber-Reiner den VN.
Mit dem Mandat endet auch der Schutz
Doch auch das hält sie fest: „Das ist kein Privileg für den Einzelnen. Es geht um einen besonderen Schutz des gesamten Parlaments und der demokratischen Institutionen.“ Zum Beispiel zum Schutz vor einer möglicherweise „wild gewordenen“ Exekutive, also der Regierungen in Bund und Land. Die sollen ja von den Parlamenten kontrolliert werden – und etwa mit der Androhung eines Polizeieinsatzes keinen Druck auf die Abgeordneten ausüben können.
Außerdem sei es nicht so, dass Ermittlungsverfahren – falls die Auslieferung verweigert wird – für ewige Zeiten unmöglich sind. Verliert nämlich ein Parlamentarier sein Mandat, verliert er die parlamentarische Immunität, eine mögliche Tat verjährt in dieser Zeit auch nicht. Was aber aus dem Verfahren gegen Jodok Anton Fritz wurde, der 1897 den Landtag verließ, ist nicht überliefert.
Mehr Informationen über die berufliche sowie über die außerberufliche Immunität von Nationalratsabgeordneten, Mitgliedern des Bundesrats und Landtagsabgeordneten finden Sie in den Fachdossiers auf der Website des Parlaments.