Dieser Text erschien zuerst am 28.2.2023 in den Vorarlberger Nachrichten und ist weiterhin hier abrufbar.
Angesichts des russischen Angriffskriegs müsse auch Österreich ernsthaft über seine Sicherheitsarchitektur diskutieren, fordern Experten. Doch politisch ist das heikel.
Wien, Bern Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Sicherheitslage auf dem Kontinent drastisch verändert, darüber ist sich Europa einig. In Deutschland etwa erhielt die Bundeswehr ein 100 Milliarden Euro starkes „Sondervermögen“ zur Aufrüstung. Schweden und Finnland, bisher neutrale Staaten mit geografischer Nähe zu Russland, beantragten noch im Mai vergangenen Jahres den Beitritt zum Verteidigungsbündnis NATO. Und auch hierzulande wurden Rufe nach einer Debatte über die Außenpolitik Österreichs laut – zuletzt in einem bereits zweiten offenen Brief von über 90 Persönlichkeiten rund um den Unternehmer Veit Dengler.
Diese wurden von der Bundesregierung aber nicht erhört. So forderte zwar der Wehrsprecher der Volkspartei, Friedrich Ofenauer, im März 2022, der geistigen Landesverteidigung “neues Leben” einzuhauchen: “Über die österreichische Neutralität und ihre Ausgestaltung muss ernsthaft diskutiert werden.” Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) erklärte solch eine Debatte aber schon einen Tag später “für meinen Teil” wieder für beendet und auch Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) bekannte sich zur Neutralität: Es gehe darum, sie entsprechend zu leben.
Unwissend durch die Außenpolitik
Genau solch eine Debatte hat Österreich aber bitter nötig, sagt Martin Senn, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck: “Uns fehlen gesicherte Kenntnisse darüber, was die Neutralität für einen Mehrwert hat, was sie uns im 21. Jahrhundert bringt.” Dazu könnte zum Beispiel die Funktion als Brückenbauer in diplomatischen Konflikten zählen: “Aber wir wissen es einfach nicht gesichert.”
Ein anderer Aspekt, so Senn, ist die sicherheitspolitische Ausrichtung Österreichs: “Bisher war die politische Notwendigkeit für eine Debatte nicht gegeben.” Das habe sich mit dem Krieg in der Ukraine geändert: “Teil der Neutralitätspolitik ist, dass man darüber reflektiert, wie sich die Rahmenbedingungen ändern und wie man sich dem anpassen sollte.” In Österreich gelte hingegen eher das Prinzip: “Die Neutralität wird nicht gelebt. Sie überlebt.” Angesichts der neuen Situation bezeichnete Ralph Janik – Universitätslektor für Völkerrecht an der Universität Wien – Österreich etwa einmal als “sicherheitspolitischen Schmarotzer”, wegen der fehlenden Verpflichtung, bei einem Angriff auf einen anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union militärisch Beistand zu leisten.
Keine Selbstreflexion in Österreich
Die österreichischen Verhandler vereinbarten mit der Sowjetunion im Moskauer Memorandum von 1955, “immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird”. Dieses Dokument sollte später Grundlage für Österreichs Unabhängigkeit werden, war aber nur politisch – nicht rechtlich – bindend (“Aus freien Stücken”). Nach Ratifizierung des Staatsvertrages beschloss das Parlament tatsächlich ein Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität, “zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes”. Der Tag des Beschlusses im Nationalrat – der 26. Oktober – wurde zum Nationalfeiertag.
Genau diese Neutralität “wie sie von der Schweiz gehandhabt wird”, sei in Österreich aber seit Jahrzehnten kein Thema, kritisiert Martin Senn gegenüber den Vorarlberger Nachrichten: “Die Schweiz ist an verschiedenen Punkten der weltpolitischen Entwicklung in einen Reflexionsprozess über das Wesen der Neutralität getreten.” Dazu würden zum Beispiel Neutralitätsberichte – wie etwa nach den Kriegen im Kosovo oder im Irak – zählen, wo festgehalten sei, “dass die Neutralität der Schweiz kein fixiertes Instrument ist und immer an die Gegebenheiten angepasst wird. Das ist ein hoher Grad an Selbstreflexion.”
“Die Neutralität tut uns gut!”
Den sieht auch Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung und Politologe an der Universität Basel: “Im Moment wird in der Schweiz stark über die Art und Weise diskutiert, wie man die Neutralität lebt, ohne sie aber in Frage zu stellen.” Linke Parteien würden zum Beispiel “mehr Flexibilität in der Handhabung” fordern, was etwa den Wiederexport von Waffen aus der Schweiz an die Ukraine betrifft. Rechte Kräfte hingegen sähen in der aktuellen Debatte eine Möglichkeit, den Rüstungsstandort in der Schweiz zu steigern, auch mit mehr Kooperationen mit der NATO.
Eine Abschaffung des Neutralitätsstatus selbst – oder gar ein Beitritt zur NATO – ist in der Schweiz hingegen überhaupt kein Thema, sagt Goetschel den VN: “An der Neutralität wird in der Bevölkerung immer noch mit über 80 Prozent festgehalten. Diese wird als Teil der Identität und des Selbstverständnisses der Schweiz gesehen.” Das liege auch daran, dass sie bereits 200 Jahre alt ist “und die Schweiz von den beiden Weltkriegen verschont wurde. Die Neutralität tut uns gut.” Das hindere die Schweiz aber nicht daran, eine klare Haltung zu vollziehen, man sehe sich etwa klar als “Teil des Westens” und habe das auch immer wieder bei Übernahme von Sanktionen der Europäischen Union bewiesen.
EU-Beitritt als Zeitenwende
Wie gut die Neutralität Österreich tue, müsse zuerst untersucht werden, glaubt wiederum Martin Senn. Klar sei aber, dass sich der außenpolitische Status Österreichs durch den Beitritt zur Europäischen Union verändert hätte. Und spätestens seit dem Vertrag von Lissabon, der eine Anpassung der Bundesverfassung über die Mitwirkung Österreichs an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit sich brachte, hätte die Bundesregierung sowieso sehr weitreichende Kompetenzen, trotz Neutralität: “Wir könnten viel, wenn wir wollten.” Was genau – etwa im Falle eines Angriffs auf einen anderen Mitgliedsstaat (“Man kann nicht sagen, dass das nie passieren wird.”) – sei aber unklar. Solchen Fragen müsste sich der Staat stellen, etwa: “Was bedeutet es, solidarisch zu sein?”
Wo wird Österreich also in einigen Jahren stehen? Im Moment, so Senn, sei der Anreiz für die Bundesregierung, sich in dieser Frage zu bewegen, relativ gering, denn: “Auf der einen Seite ist sie mit dem Umstand konfrontiert, dass die Bevölkerung stark hinter der Neutralität steht, und auf der anderen Seite sind die Hürden für die Abschaffung hoch.” Dennoch könne man sich erwarten, dass eine Regierung “ein solch heißes Eisen” angreift: “Wir müssen jetzt schon die Weichen stellen. Denn wir können in eine Situation kommen, in der eine Ad-hoc-Lösung nicht mehr ausreicht.”
Am Ende eines breit angelegten Diskussionsprozesses müsse aber nicht unbedingt der Beitritt zur NATO stehen, auch weil bis dahin – aus Sicht von Martin Senn – drei Hürden zu überwinden wären: Eine mögliche Blockade der Türkei, die sie bei der aktuellen Erweiterungen schon zur Schau stellt, eine hohe Anforderung an die Rüstungsausgaben von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts und Fragen im Bereich der nuklearen Abrüstung, wo sich Österreich international einen Namen gemacht hätte. Denn die NATO sei nun einmal eine nukleare Allianz. Und bei einem Beitritt dazu müsste aus politischer Sicht wohl immer eine Volksabstimmung durchgeführt werden. Womit wir wieder beim “heißen Eisen” wären.