Mit Tomaten gegen Wien: Von nun an sollte das Schiff Vorarlberg heißen

Dieser Text erschien zuerst am 23.11.2024 im STANDARD und ist weiterhin hier abrufbar.

 

1964 wurde Vorarlberg in Fußach bewusst, dass es sich lohnen kann, für Ziele einzustehen – auch wenn es „nur“ um einen Schiffsnamen ging. So aufregend kann Föderalismus sein

Vorarlberg ist anders. Zumindest reden sich die Vorarlbergerinnen und Vorarlberger das regelmäßig ein, kräftig unterstützt von „ihrer“ Landespolitik, die liebend gerne in Richtung Hauptstadt schimpft: Vor „Verhältnissen wie in Wien“ warnte Landeshauptmann Markus Wallner etwa anlässlich der Landtagswahl im Oktober und spielte damit auf möglicherweise unklare Mehrheitsverhältnisse an. Das ist aber harmlos im Vergleich zu den Szenen, die sich vor 60 Jahren am Bodensee abspielten.

Im November 1964 begehrte Vorarlberg mit Tomaten gegen den Osten auf. Der Protest in der kleinen Gemeinde Fußach – damals lebten dort 1013 Menschen – sollte später als Geburtsstunde des Föderalismus gelten.

Name wie des Republikgründers

Die Vorgeschichte: Ab 1955 plante das Verkehrsministerium den Bau eines Bodenseeschiffes für den Linien- und Ausflugsverkehr. Und von Anfang an trat die schwarz-rote Landesregierung dafür ein, dieses Schiff auf den Namen Vorarlberg zu taufen. Damit blieb sie bei Otto Probst, SPÖ-Minister zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Schiffes – und vor allem: Wiener – , aber ebenso ungehört wie die Landesparteileitung der SPÖ. Probsts Plan war nämlich: Das Schiff sollte Karl Renner heißen. Denn warum sollte ein Sozialdemokrat ein Schiff nach dem ÖVP-dominierten Bundesland benennen, wo es verkehren soll, wenn man es auch dem sozialdemokratischen Republikgründer widmen kann?

Probst hatte seine Rechnung aber nicht mit der Bevölkerung Vorarlbergs – und vor allem nicht mit der stärksten Tageszeitung im Land, den Vorarlberger Nachrichten (VN) – gemacht. Diese intervenierte nämlich zunächst persönlich anlässlich eines Redaktionsbesuchs bei Außenminister Bruno Kreisky und rief dann am 21. November 1964 zur Demonstration an der Fußacher Werft auf, wo das Schiff zusammengebaut zur Taufe bereitstand. Schlagzeile: „Minister Probst brüskiert und provoziert damit ganz Vorarlberg.“

 

Mindestens 3000 „Lausbuben“ gegen Probst

Diese Demonstration fand dann tatsächlich noch am selben Tag statt. Die aus Wien mit dem Sonderzug anreisenden Ehrengäste wurden etwa mit Tomaten, Eiern und Dreck beworfen. Probst reiste nach Warnungen der Gendarmerie nicht auf dem Landweg, sondern mit dem Motorboot über den Bodensee nach Fußach, nur um beim Anblick der wütenden Menschenmasse kehrtzumachen. Die VN schätzten die Teilnehmerzahl auf 30.000, die Gendarmerie auf 12.000 Menschen, und Probst selbst erspähte 3000 „Lausbuben“ – die ihm aber ausreichten, um die Taufe abzusagen.

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Doch das reichte den Vorarlbergern – vor allem erschienen Männer – nicht aus. Historiker Gerhard Wanner aus Feldkirch erzählte: Nach seiner Rede erkor Demonstrant Ernst Marxgut, ein 38-jähriger Verkaufsberater, die „junge blonde Dame im Pelzmantel, Trude Hartmann“ zur Taufpatin. Und die not-taufte um 12.05 Uhr am 21. November 1964 mit einer Flasche voller Bodenseewasser das Schiff auf den Namen Vorarlberg. In einem Interview2014 sagte die mittlerweile verstorbene Trude Nagel, geborene Hartmann, den VN: „Es war so, wie wenn eine Suppe anfängt zu kochen.“ In Vorarlberg habe etwas gebrodelt. Historiker Wanner hielt 2015 in seinem Buch zur Szene fest: „Die Volksmenge sang die Landeshymne.“ Und: „Zwei Burschen erkletterten das Schiff und übermalten mit schwarzer Farbe den Namen Karl Renner und schrieben daneben Vorarlberg.“

Doch wie konnte es so weit kommen? Laut dem Historiker Wolfgang Weber wurden sich die Vorarlberger Nachrichten ihrer Macht „nicht nur bewusst, sondern haben sie auch angewendet“. Auch wenn das bedeutete, dass später gegen Herausgeber und Chefredakteur wegen „Aufwiegelung“ ermittelt wurde.

Bundespräsident Franz Jonas ließ die Verfahren wie auch jene gegen die wenigen ausgeforschten Demonstranten, etwa wegen „Amtsehrenbeleidigung“, später einstellen.

Fußach im größeren Kontext

Dem STANDARD sagt Weber, dass die Ereignisse von Fußach in einem größeren Kontext gesehen werden müssen. Etwa darin, dass die Tageszeitungen wenige Monate zuvor erfolgreich im Rundfunkvolksbegehren lobbyierten oder auch anhand internationaler Beispiele wie dem Beschluss des Bürgerrechtsgesetzes in den USA 1964: „Das zeigte den Menschen auf, wie erfolgreich sich Menschen in anderen Regionen der Welt selbst ermächtigten und Ziele erreichten.“ Und das Vorarlberger Volk war bereit, dieses „Empowerment“ – wenn auch nur gegen die Bundesebene – zu nutzen.

Dieses Engagement wurde auch im Osten Österreichs wohlwollend aufgefasst: Als im Juni 1965 Fußachs Feuerwehrkommandant und ein Kamerad nach Linz fuhren, um dort ein neues Auto abzuholen, erreichten sie auf dem Weg nach Hause spontane Beifallsbekunden von Passanten – wohl ausgelöst durch die Aufschrift der Fußacher Feuerwehr.

Der Ruf eines „Vorbildföderalisten“ werde dem westlichsten Bundesland tatsächlich nachgesagt, sagt Verfassungsjurist Peter Bußjäger, wie Weber ebenfalls Vorarlberger: „Kein anderes Bundesland hat so früh Instrumente der direkten Demokratie verankert wie Vorarlberg“, hält der Direktor des Instituts für Föderalismus fest. Und Vorarlberg habe auch früh Kompetenzen ausgereizt oder gar überschritten. Der frühere Landeshauptmann Ulrich Ilg bezeichnete Vorarlberg in seinen Memoirendeswegen als „Stammkunde am Verfassungsgerichtshof“.

Vorarlberg – sich gerne selbst genug

Der Fußacher Friedrich Schneider, Obmann des Dorfgeschichtsvereins und Sohn des damaligen Feuerwehrkommandanten Werner Schneider, sagt zwar, dass die Causa heute im Ort kein großes Thema mehr sei: „Dass diese Werft hier angesiedelt wurde, war einfach Zufall.“ Es ließen sich von „Fußach 64“ aber Parallelen zu heute ziehen, sagt Ingrid Böhler, Leiterin des Instituts für Zeitgeschichte an der Uni Innsbruck: etwa bei den Vorbehalten der Länder gegenüber Wien oder wenn es um Querschüsse in der SPÖ geht – damals habe Probst den Vorarlbergern unterstellt, auf der Seite von Franz Olah, dem aus der SPÖ ausgeschlossenen Ex-Innenminister, zu stehen. Und dem ÖVP-Landeshauptmann Herbert Keßler sei es ein Anliegen gewesen, kurz nach seiner ersten Wahl ein erstes starkes Signal nach Wien, aber auch in Richtung seiner eigenen Bevölkerung zu senden.

Wie anders ist Vorarlberg jetzt aber tatsächlich? Das Landesvolk glaube an die eigene Einzigartigkeit, nur: „Das ist ein alter Spin. Der hat sich seit der Erfindung des Alemannentums im späten 19. Jahrhundert in den Köpfen der Bevölkerung festgesetzt“, sagt die Vorarlberger Historikerin Ingrid Böhler. „Wir sagen gerne über uns selbst, dass wir schaffan (arbeiten, Anm.)und bescheiden und pragmatisch sind. Man ist sich in Vorarlberg gerne selbst genug“, ist Böhler überzeugt. Etwa die „Causa Wirtschaftsbund“ oder die Affäre um gefälschte Unterschriften auf Wahlkarten bei der Gemeindewahl in Bludenz 2015 hätten aber gezeigt, dass Vorarlberg eben nicht so anders ist. Dennoch gelte: „,Wir sind anders, wir sind besser‘ – diese Alemannentümelei ist in Vorarlberg bis heute nicht verschwunden.“

Wie auch das Schiff Vorarlberg, das bis heute über den Bodensee tuckert.