Dieses Interview erschien zuerst am 1.1.2023 in den Vorarlberger Nachrichten und ist weiterhin hier abrufbar.
Im VN-Interview befürwortet der Präsident des Verfassungsgerichtshofs ein Informationsfreiheitsgesetz. Außerdem bekräftigt er die Entscheidung des Höchstgerichts über die direkte Demokratie auf Gemeindeebene.
Wien Zu seinem Amtsantritt Anfang 2020 wurde Christoph Grabenwarter als “logische Wahl” bezeichnet, seither steht der 56-Jährige dem österreichischen Höchstgericht vor. Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs folgte in dieser Position auf Brigitte Bierlein, die im Juni 2019 zur Bundeskanzlerin ihrer Übergangsregierung ernannt wurde.
Im Interview mit den Vorarlberger Nachrichten plädiert der Jurist und Handelswissenschaftler für fundierte Diskussionen rund um die Verfassung und die Menschenrechtskonvention. Die Aufgabe der Justiz sei es, ihre Handlungen gelassen zu erklären. Mittelbaren Parlamentarismus sieht er als essentiellen Aspekt unserer Demokratie.
Rund um den Verfassungsgerichtshof herrscht vor allem wegen der Corona-Maßnahmen ein großes mediales und politisches Spannungsfeld. Wie herausfordernd ist das?
GRABENWARTER Die Zeit der Pandemie war für alle Staatsorgane herausfordernd, auch für den Verfassungsgerichtshof, allein wegen der hohen Anzahl der Verfahren. Dass Entscheidungen des VfGH in Diskussion stehen, ist nicht ungewöhnlich. Vor allem dann, wenn sie zentrale Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens betreffen. Wir haben diese Diskussion mit Gelassenheit verfolgt und uns von kritischen Stimmen nicht beeindrucken lassen.
Schaden dem Verfassungsgerichtshof solche Diskussionen?
GRABENWARTER Diskussionen an sich sind nichts Schlechtes. Schwierig wird es, wenn Kritik formuliert wird, die unsachlich und von falschen Tatsachenannahmen getragen ist. Da ist es unsere Aufgabe, das richtigzustellen, klarzustellen, zu erklären.
Inwiefern kann die Justiz das überhaupt?
GRABENWARTER Alexander Hamilton, einer der Verfassungsväter der USA, hat die Justiz als „least dangerous branch“ bezeichnet. Also als „am wenigsten gefährliche Staatsgewalt“. Da ist insofern etwas dran, als sich die Justiz nicht mit den Mitteln derer wehren kann, die sie angreifen. Was aber schon geht: Dass man ruhig und sachlich im Nachhinein erklärt, warum man etwas so getan hat und wie man es getan hat.
Die ÖVP hat zuletzt eine Diskussion über die Europäische Menschenrechtskonvention angestoßen und dabei unter anderem den Menschenrechtsgerichtshof kritisiert. Fehlt der Justiz ein Mittel, um adäquat darauf zu reagieren?
GRABENWARTER Die Menschenrechtskonvention ist mit meiner Berufsbiografie auf das Engste verknüpft. Ich sehe sie als einen zentralen Teil unserer Verfassungsidentität. Dazu gehört, sie so zu akzeptieren, wie sie vom Menschenrechtsgerichtshof und vom Verfassungsgerichtshof ausgelegt wird.
Schaden Debatten darüber einer Verfassungsidentität?
GRABENWARTER Debatten über Verfassungsinhalte kann man führen. Sie sollten von Sachverstand getragen werden und sollten im Blick haben, was das Ziel ist. Wenn Debatten sehr diffus sind, ist es schwierig, sich daran zu beteiligen.
Riskiert die Politik, wenn sie die Verfassung kritisiert, dass das Vertrauen in die Institutionen schwindet? Auch in den Verfassungsgerichtshof?
GRABENWARTER Wenn die Kritik im Interesse an der Sache ist, und das will ich einmal jedem unterstellen, schadet sie den Institutionen nicht. Wenn die Institutionen, die einen Verfassungsinhalt zur Geltung bringen, in Frage gestellt werden, erwarte ich mir, dass sich führende Vertreter der Republik klar positionieren.
Im Sideletter zum Regierungsprogramm ist vermerkt, dass Sie zum Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs ernannt werden sollten. Der ÖVP stehe außerdem das Nominierungsrecht für den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts zu. Was bedeutet das für die Justiz?
GRABENWARTER Das ist gar nicht angenehm, weil es Personen trifft, und da schließe ich mich mit ein, die ihren Berufsweg unabhängig von der Politik gemacht haben. Sie sind davon überzeugt, dass sie durch eigene berufliche Leistungen ihr ganzes Leben bestimmen haben lassen. Ich habe in diesem Zusammenhang den Vorschlag unterbreitet, dass man das Bestellungsrecht für Verfassungsrichter so wie in Deutschland von der Regierung weggibt. Wenn nämlich etwas Teil des parlamentarischen Prozesses ist, vielleicht mit Zwei-Drittel-Mehrheit, dann erübrigen sich Sideletter.
Immer wieder werden die sehr lebhaften Debatten in den Beratungen des Verfassungsgerichtshofs gelobt: Droht bei einer Bestellung mit Zwei-Drittel-Mehrheit, dass Kompromisskandidaten diese Diskussionen farbloser werden lassen?
GRABENWARTER Das sehe ich gar nicht. Im Kompromiss sehe ich im Vorhinein nichts Negatives und schon gar nicht, dass jemand farblos sein könnte. In Deutschland hat sich gezeigt, dass das einfach ein Instrument ist, um zu verhindern, dass eine politische Kraft ihre Kandidaten oder Kandidatinnen durchbringt und eine Einseitigkeit herrscht. Wir brauchen bestimmte Sicherungen in der Verfassung im Moment nicht, weil wir eine politische Kultur haben, dass Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter im Konsens bestellt werden. Diese Bestimmungen wären aber dazu da, Sicherungen zu geben, falls das nicht mehr so sein sollte.
Die Europäische Kommission hat in ihrem Rechtsstaatlichkeitsbericht kritisiert, dass die Justiz an der Besetzung von Präsidenten der Verwaltungsgerichte nicht eingebunden werde. Ist der Gesetzgeber hier schleißig?
GRABENWARTER Nein. Die Kommission macht Berichte aus einer gewissen Vogelperspektive. Ich war in dieser Woche bei den Hearings für den Präsidenten oder die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts – das war eine höchst unabhängige und sachliche Debatte mit den Präsidenten der Höchstgerichte und Vertretern der Rechtswissenschaft. Ich denke nicht, dass so etwas „schleißiger“ ist als ein Verfahren mit richterlichen Vorschlagsmöglichkeiten.
Zum ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss waren mittlerweile an die 100 Verfahren beim Verfassungsgerichtshof anhängig und jeder einzelne Fall wird von den Parteien genutzt, um mediale Stimmung zu erzeugen. Denkt man das mit?
GRABENWARTER Die Verfahren über die U-Ausschüsse sind eine Herausforderung für uns, wir sind hier Schiedsrichter in parlamentarischen Konflikten. Das bedingt, dass man auf politischem Terrain entscheidet. Aber wir entscheiden nicht politisch, sondern streng am Maßstab der Verfassung. Weil das so ein politisches Feld ist, legen wir einen besonders hohen Wert auf verfahrensrechtliche Feinheiten und auf Formvorschriften, was manchmal eben zu formalen Entscheidungen führt.
Deshalb weisen Sie Anträge zum Beispiel zurück, wenn eine Datumsangabe falsch ist.
GRABENWARTER Wir sind bezüglich U-Ausschuss aus gutem Grund strenger. Ein einzelner Bürger, der sich verschreibt, aber wo klar ist, was gemeint ist, ist in einer anderen Situation als Abgeordnete im Parlament, von denen man erwarten kann, dass sie ihre Anträge ganz präzise fassen. Auch deshalb, weil der Verfassungsgerichtshof – in der bei solchen Verfahren geltenden vierwöchigen Frist – keine Zeit hat, herumzusuchen, welches Schriftstück gemeint sein könnte.
Seit 2013 gibt es ein Verfassungsgesetz über die Nachhaltigkeit. Die Republik bekennt sich dazu, „bestmögliche Lebensqualität“ für „zukünftige Generationen“ zu gewährleisten. Verpflichtet uns das zu bestimmten Klimaschutzmaßnahmen?
GRABENWARTER Das ist ein eher jüngeres Verfassungsgesetz. Die Diskussion darüber ist von einem europaweiten Trend beeinflusst, dass Klimaschutzfragen vor Gerichte gebracht werden. Bei uns ist die Ausgangssituation anders, weil unser Klimaschutzgesetz nicht so klare Vorgaben enthält wie jenes in Deutschland. Bei den bisherigen Verfahren haben wir noch keine Verletzung von Grundrechten festgestellt. Wenn Entscheidungen des Menschenrechtsgerichtshofes in zwei vordringlich behandelten Fällen (aus Portugal und der Schweiz, Anm.) vorliegen, wird der Verfassungsgerichtshof sicher befasst werden und sich an der Menschenrechtskonvention und der Straßburger Rechtsprechung orientieren.
Braucht es – vor allem bei gesellschaftspolitischen Themen – manchmal eine etwas weitere Interpretation der verfassungsrechtlichen Grundlagen, um gesellschaftlichen Wandel in der Rechtsprechung abzubilden?
GRABENWARTER Die Verfassungsrechtsprechung ist mit sehr allgemeinen Maßstäben befasst, zum Beispiel dem Gleichheitsgrundsatz. Das unterscheidet sie von der Strafjustiz oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie erhält über die Jahrzehnte immer wieder neue Facetten durch die Judikatur dazu. Der Gesetzgeber, der primär zur Gestaltung der Sozialbedingungen aufgerufen ist, muss sich an die Schranken halten, die die Rechtsprechung zieht.
Eine stetige Diskussion und die darauffolgende Rechtsprechung gewährleisten also, dass die Justiz gesellschaftlichen Wandel nicht verpasst?
GRABENWARTER Gesellschaftspolitischer Wandel ist in der Rechtsprechung wahrgenommen: Dadurch, dass hier Richter sitzen, die in verschiedensten Berufen tätig und in ihren Berufen tagtäglich mit den Fragen, die das Gericht betreffen, befasst sind. Wenn ein Gericht durch seine Besetzung eine gewisse Pluralität aufweist, werden auch gesellschaftliche Entwicklungen abgebildet.
Dass Mitglieder am Verfassungsgerichtshof das nebenberuflich machen, ist also gut?
GRABENWARTER Die berufliche Expertise, die die einzelnen Richter einbringen, ist unverzichtbar. Auf diese Art und Weise bilden wir nicht nur den Sachverstand, sondern auch konkrete Lebensverhältnisse im Gericht ab.
Sie haben zum Beispiel Covid-Verordnungen aufgehoben, weil sie nicht auf nachvollziehbare Art und Weise begründet waren. Sollten aber wirklich Juristen über solche medizinischen Fachfragen entscheiden?
GRABENWARTER Juristinnen und Juristen sollten nicht über Sachfragen befinden, sondern sie sollten sich – auf allen Stufen der Rechtsanwendung – ihres Sachverstandes bedienen. Der ist notwendig, um über Rechtsfragen zu entscheiden, in denen komplexe wissenschaftliche Erkenntnisse verborgen sind. Hier führt der Verfassungsgerichtshof ein Vorverfahren, holt Stellungnahmen ein und hält zum Teil auch mündliche Verhandlungen ab.
Wann zum Beispiel?
GRABENWARTER Das haben wir im Frühjahr 2022 gemacht, als wir den Lockdown für Ungeimpfte behandelt haben. Wir haben uns die Frage gestellt, inwiefern es gerechtfertigt ist, Personen ohne Impfung strengeren Bedingungen zu unterwerfen. Dabei hat der Verfassungsgerichtshof im Rahmen einer öffentlichen Verhandlung Sachverstand von mehreren Seiten eingeholt. Wir können nicht sagen, wie sich eine bestimmte Inzidenz medizinisch auswirkt. Aber wir können sagen: Wenn dieses und jenes gegeben ist, dann ist es gerechtfertigt, so zu reagieren. Wir nützen den Sachverstand als eine Art Werkzeug, um in der Rechtsfrage möglichst richtig zu entscheiden.
Können Sie sich Situationen vorstellen, in denen Sie nicht entscheiden können, weil so ein Sachverstand fehlt?
GRABENWARTER Bis jetzt hat es keine Situationen gegeben, in denen das nicht mehr funktioniert hat. Bei der Sterbehilfe war es zum Beispiel wichtig, abzustecken, welche medizinischen und ethischen Fragen sich stellen. Der Verfassungsgerichtshof hat so viele Informationen wie möglich – auch über die Situation im Ausland– zusammengetragen. Wir haben also versucht, ein möglichst breites Bild der Menschen zu gewinnen, die anstreben, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen.
Braucht es mehr Transparenz beim Verwaltungshandeln mit Verordnungen? Das Gesundheitsministerium verweigert zum Beispiel immer noch die Herausgabe der fachlichen Begründungen von Covid-Verordnungen.
GRABENWARTER Wir haben schon Auskunftspflichtgesetze, die mit Leben erfüllt werden können und müssen. In Bezug auf ein Informationsfreiheitsgesetz erklären alle Beteiligten, dass sie das noch in dieser Legislaturperiode vollenden wollen. Und wir haben eine Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, die die Informationsfreiheit – gestützt auf die Menschenrechtskonvention – sehr ernst nimmt.
Diese Transparenz ist durch die Rechtsprechung für Medien und “Public Watchdogs” also genügend gewährleistet?
GRABENWARTER Anspruch auf Transparenz ist ein Grundrecht, das es bereits gibt. Da gibt es europäische Entwicklungen, auch zugunsten von mehr Transparenz. Es wäre aber sicherlich zu begrüßen, wenn der Verfassungsgesetzgeber für Österreich eine Regelung trifft, die es erspart, längere Ableitungen aus Artikel 10 der Menschenrechtskonvention machen zu müssen.
2020 hat eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über Volksabstimmungen auf Gemeindeebene, damals in Ludesch, große Wellen geschlagen. Seither sind diese gegen den Willen der Gemeindevertretung nicht mehr möglich. Ist das ein Problem, dass es eine bundesweite Volksabstimmung braucht, um das wieder zu ändern?
GRABENWARTER Mit der direkten Demokratie in Vorarlberg haben wir uns 2001 und 2020 beschäftigt. Das sind Entscheidungen, die die Rolle des Verfassungsgerichtshofes klarmachen: Er ist Hüter der Verfassung und ihrer Grundprinzipien. Und an das Grundprinzip der Demokratie ist er gebunden. Das erlaubt es nicht, Entscheidungen von Parlamenten – und die Gemeindevertretung ist mit einem solchen vergleichbar – durch Volksabstimmungen auszuhebeln.
Warum?
GRABENWARTER Unsere Bundesverfassung hält das Wahlrecht sehr hoch. Wir haben eine repräsentative Demokratie, alle vier bis fünf Jahre wird gewählt. Und in der Zwischenzeit liegt die Verantwortung für das Recht, das gesetzt wird, in den Händen der Volksvertreter. Will man das wesentlich ändern, muss man mit einer Volksabstimmung das demokratische Prinzip ändern.
Sollte man das tun?
GRABENWARTER Ich möchte darauf hinweisen, dass gerade eher autoritäre Regime sehr oft das Parlament gegen das Volk ausspielen. Das zu verhindern, steckt hinter der Idee von Hans Kelsen über die besondere Verantwortung des Parlaments für die Demokratie. Das Parlament ermöglicht den Kompromiss. Bei einer Volksabstimmung sind die Optionen immer nur „Ja“ oder „Nein“. Und das hat oft vielleicht auch eine weniger befriedende Wirkung: Weil eine knappe Minderheit eine Entscheidung womöglich weniger akzeptiert, als es ein von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragener Kompromiss ist.
Die repräsentative Demokratie gewährleistet also, dass die Parlamente ein gewisses Standing haben?
GRABENWARTER Ja. Es gab ja in der Geschichte im deutschsprachigen Raum eine Zeit, in der Parlamente sehr geringgeschätzt wurden. Die 1920er Jahre waren in Deutschland und bei uns kein Ruhmesblatt für die parlamentarische Demokratie. Gott sei Dank haben wir nach 1945 gesehen, dass die mittelbare Demokratie ein starker Garant für ein friedliches Zusammenleben ist. Und ich denke, dass wir alles dafür tun sollten, dieses Bewusstsein zu erhalten und zu stärken.