Warum Wähler in Lindau früher als jene in Vorarlberg erfahren, wie sie gewählt haben

Dieser Text erschien zuerst am 9.6.2024 in den Vorarlberger Nachrichten und ist weiterhin hier abrufbar.

 

Eigentlich könne man nicht von einer großen Europawahl sprechen, sagt der Politikwissenschaftler. Vielmehr handle es sich um 27 einzelne nationale Wahlen.

Wien, Brüssel In Belgien herrscht bei der Europawahl noch Wahlpflicht. Die Niederländerinnen und Niederländer haben bereits am Donnerstag ihre Stimme abgegeben. In Italien und Tschechien sind die Wahllokale sogar an zwei Tagen geöffnet. Allein aus diesen drei Beispielen wird klar: Von einer einheitlichen Europawahl kann man auch heuer nicht sprechen. Und das bringt weitere Kuriositäten mit sich: So werden die Wählerinnen und Wähler in Lindau früher erfahren, wen sie gewählt haben, als jene in Bregenz. Denn die Wahlbehörden in Deutschland und Österreich legen den europäischen Direktwahlakt unterschiedlich aus. Laut dem Politikwissenschaftler Lucas Schramm von der Universität München bestätigt das „den nationalen Charakter der Europawahlen und führt diesen fort“.

Um 23 Uhr ist in Italien Schluss

Im EU-Rechtsakt ist festgeschrieben, dass ein Mitgliedsstaat sein amtliches Ergebnis erst dann veröffentlichen darf, wenn die Wahllokale in anderen Mitgliedsstaaten wieder geschlossen haben. Heuer ist das am Sonntag um 23 Uhr, wenn auch in Italien Wahlschluss ist. Laut Andreas Müller, Professor für Europarecht an der Universität Basel, dient diese Bestimmung dazu, die Wahlfreiheit zu schützen: „Wähler sollen ihre eigene Wahl nicht vom Ergebnis in einem anderen Mitgliedsstaat abhängig machen und dadurch schon oder doch nicht oder anders wählen“, sagt der Feldkircher den VN.

Österreich setzt diese Regel strikt um. Weil der Verfassungsgerichtshof die Wahlgesetze bei Anfechtungen genauestens auslegt, ist das nationale Wahlergebnis – und auch Teile davon – bis 23 Uhr am Sonntag geheim zu halten. So wird zum nationalen Wahlschluss am Sonntag um 17 Uhr nur eine Trendprognose – basierend auf Umfragen – in den Medien zu sehen sein. Laut Peter Filzmaier ist das ein Problem. „Weil die Parteien in den Wahlbehörden vertreten sind, kennen sie das Ergebnis zuerst. Deren Spin können Medien bis 23 Uhr aber nicht überprüfen – es ist also Vorsicht geboten“, sagt der Politologe von der Universität Krems den VN.

Auf der anderen Seite des Bodensees wird sich dieses Problem nicht stellen. Der Landkreis Lindau legt den Direktwahlakt nämlich nicht so restriktiv wie die österreichischen Behörden aus und veröffentlicht schon ab Wahlschluss um 18 Uhr die Ergebnisse der einzelnen Gemeinden. Eine Sprecherin der deutschen Bundeswahlleiterin sagt den VN, dass aus ihrer Sicht Ergebnisveröffentlichungen auf Kreis- oder Stadtebene am Sonntag vor 23 Uhr möglich seien, „wenn die Ergebnisse nicht derart zusammengeführt werden können, dass der Ermittlung des Landesergebnisses vor 23 Uhr vorweggegriffen werden kann“. Anders in Österreich: Martina Schönherr, Leiterin der für Wahlen zuständigen Abteilung im Landhaus, sagt den VN, dass die Gemeinden an einen Beschluss der Bundeswahlbehörde gebunden seien und deshalb dennoch keine Ergebnisse vor 23 Uhr veröffentlichen dürfen.

Kein einheitliches Wahlverfahren

Für Jurist Andreas Müller wäre ein einheitliches Wahlverfahren in allen Mitgliedsstaaten wünschenswert, wie er den VN sagt: „Geplant war ja eigentlich ein einheitliches Wahlverfahren, aber das hat politisch bislang nicht geklappt. Deshalb gibt es Spielräume und Unsicherheiten. Es gibt aber gemeinsame Standards, etwa bei der Sperrklausel.“ Klar sei aber auch: Der Direktwahlakt mache Vorgaben für alle 27 EU-Staaten und lasse nur gewisse Spielräume. Die Vorgangsweise Lindaus ist für Müller innerhalb dieses Rahmens: „Es wird ja keine Deutschland-weiten Ergebnisse geben. Außerdem sprechen wir nur von ein paar Stunden.“

Ein Indiz dafür, dass die Lindauer Praxis zulässig sei, sieht Müller darin, dass das EU-Parlament selbst bereits ab circa 20 Uhr am Wahlsonntag eine Trendprognose – gespeist aus Umfragedaten aus ganz Europa – veröffentlicht. „Auch das Informationsanliegen der Bevölkerung spielt eine Rolle.“ Ein Sprecher des Europaparlaments sagt den VN, dass das Parlament zwar nicht entscheiden könne, was erlaubt ist und was nicht, aber: „Aus Sicht des Parlaments beziehen sich die Bestimmungen auf offizielle Endergebnisse auf nationaler Ebene.“

Zu bekritteln ist laut Politikwissenschaftler Lucas Schramm, dass diese Diskussion zur Fragmentierung der Europawahl beitrage. „Weiterhin gelten 27 nationale Wahlrechte. Insofern ist es angebrachter, von den Wahlen (im Plural) zum Europäischen Parlament zu sprechen statt von einer Wahl.“ Angesichts der zahlreichen weiteren Unterschiede – etwa beim Wahlalter – sei die Lindauer Praxis „nur ein kleiner Aspekt“ in dieser Debatte. Aber, so Schramm: „Sie bestätigt den nationalen Charakter der Europawahlen und führt diesen fort.“